Die Büchse der Pandora
Im Artikel “Trauma versus Signifikantes Emotionales Ereignis S.E.E.”, oder auch in den Beiträgen zur Dissoziation, habe ich es schon kurz angeschnitten: Kommt es – ausgelöst durch äußere, subjektiv bedeutsame Ereignisse – zu einer massiven Überforderung durch Emotionen, dann hat die menschliche Neurologie die Fähigkeit darauf zu reagieren.
Die Neurologie distanziert sich von diesen problematischen Emotionen. Dazu steckt sie diese Emotionen und Erinnerungen quasi in eine Schachtel, um diese Schachtel dann gut verstauen zu können. Der Rest hat keinen direkten Zugriff mehr zu den Inhalten dieser Schachtel, es sei denn die Schachtel wird geöffnet.
Die Schachtel wird also irgendwie geöffnet, und all die Probleme darin sind plötzlich wieder zugreifbar. Nein, ich sage nicht, das die Büchse der Pandora als Metapher genau diesen urmenschlichen Mechanismus der Verdrängung beschreibt. Ein bisschen verdächtig scheint es allerdings schon…
Die Büchse der Pandora enthielt, wie die griechische Mythologie überliefert, alle der Menschheit bis dahin unbekannten Übel wie Arbeit, Krankheit und Tod. Sie entwichen in die Welt, als Pandora die Büchse öffnete.
— aus Büchse der Pandora auf Wikipedia
Diese stark überfordernden Emotionen und Erinnerungen werden also weggesperrt, in einen eigenen klar begrenzten Teil des Unbewussten organisiert. Wo sie wunderbar versteckt darauf warten irgendwann, wenn dem Menschen mehr Erfahrungen und Ressourcen zur Verfügung stehen, verarbeitet zu werden.
Allerdings, wie bei einer behüteten Schachtel am Dachboden, kommt der Moment, an dem ein neugieriges Kind herum stöbert, und diese Schachtel aufmacht. Nennen wir diese Kind einfach mal Pandora. Und Pandora ist nur eine Metapher, die für einen Auslöser steht. So wie Pawlov seine Hunde darauf trainiert hat, beim Klingeln einer Glocke Futter zu erwarten, hat unser Unbewusstes auch manche auslösenden Reize, die eben genau dazu führen, das Pandora ihre Büchse erinnert, und die Probleme wieder etwas zugreifbarer macht.
Was tun Teile?
Teile sind grüne Ellipsen im ansonsten runden Unbewusste. Und das Bewusste ist ein rotes Kipferl im runden Unbewussten. (So gesehen ist das Bewusste also nur ein spezieller Teil des Unbewussten. jeder der möchte ist herzlich eingeladen darüber nachzudenken. Es lohnt sich. Wirklich!)
Im Gegensatz zu den grünen Ellipsen und roten Kreisen im Bild oben ist der schwarze Pfeil nur symbolisch zu nehmen. Er steht für eine Information, die über die Sinne aufgenommen wurde. Die Neurologie beginnt diesen Impuls zu verarbeiten, baut dabei auf bereits gemachten Erfahrungen auf, passt das Wahrgenommene vielleicht etwas an das an, was die Neurologie erwartet, generiert innere Zustände und vieles vieles anderes.
Im Normalfall würde diese eingehende Information also verarbeitet, und zu einem einigermaßen vorhersehbaren Ergebnis führen. Das wäre im Bild oben der Pfeil der strichliert in gerader Linie durch das Unbewusste geht.
Im Beispiel oben trifft der Informationspfeil jetzt aber auf einen grünen Teil. Der Teil ist ja dier Schachtel in der überfordernde Emotionen und andere Erinnerungen sicher verschlossen in einer Kapsel sind. Die Information hat im Laufe ihrer Verarbeitung irgendwelche inneren Ereignisse angestoßen, die dazu führen, dass der Informationspfeil zur Pandora wird, und eben diese Büchse mit den Erinnerungen öffnet.
Der derart aktivierte Teil enthält die überfordernden Emotionen. Im Zustand damals, als die Büchse geschaffen wurde, hatte das Selbst des AusnahmezuLernerfahrungen seither nicht mitgekriegt. Das Innere der Büchse ist im Grunde immer noch das verletze und überforderte Menschlein, das da zum Zeitpunkt war, als eben dieses unglückliche Ereignis stattgefunden hat. Natürlich ist der Teil im Laufe der Jahre etwas ruhiger geworden, und natürlich ist er um einige Lernerfahrungen bei jeder seiner Aktivierungen reicher geworden.
Da war ich ganz außer mir…
— alte Redewendung
Außer mir. Und doch in mir, in einer grünen Ellipse eben. Jedoch außerhalb meines gewohnten inneren Zustandes.
Zurück zum Bild oben. Der Informationspfeil hat also, nachdem er den Teil aktiviert hat, seine Richtung geändert. Die Information wird jetzt anders weiterverarbeitet, eben so wie es der Teil mit seinen Fähigkeiten kann. Dabei lernt auch der Teil dazu, und gewinnt neue Erfahrungen.
Wenn die Information den Teil wieder verlässt übernimmt wieder das “normale” Unbewusste die Verarbeitung, greift zu auf was der Teil produziert hat, und erzeugt dann ein Ergebnis der ursprnglichen Wahrnehmung. Dieses Ergebnis kann nach außen für andere sichtbar sein und zum Beispiel in einer Handlung münden, oder es ist so unbewusst und subtil, das möglicherweise nur ein wenig an Hormonen oder Neurotransmittern ausgeschüttet wird. Einmal erreicht es vielleicht das Bewusste, ein anderes mal kommt es gar nicht dort an und bleibt völlig unbewusst.
Aber auch hier beim zweiten Übergang verändert der Informationspfeil noch einmal seine Richtung, er wird wieder abgelenkt wenn er vom Teil wieder ins Unbewusste übergeht. Das Ergebnis das das Unbewusste wahrnimmt, oder das vielleicht Beobachter außen wahrnehmen, wird oftmals überraschend sein, weil es so nicht erwartet wurde.
Wie heißt es so schön? Die Zeit heilt alle Wunden? Auch die Teile “reifen”. Umso schneller, je öfter sie aktiviert werden. Und irgendwann vielleicht sind sie so reif geworden, dass im Grunde kein signifikanter Unterschied mehr zum umgebenden Unbewussten mehr besteht, und ganz von selbst integriert sich die Schachtel am Dachboden wieder in das Alltagsgeschehen und hört auf zu existieren.
Je nach Schwere der Überforderung die zum Erzeugen der Schachtel geführt hat kann es ein langer und emotional teurer Weg sein, diesen Reifegrad des Teils zu erreichen. Oder das Unbewusste lernt vorher allen Situationen aus dem Weg zu gehen, die zur Aktivierung des Teils führen. Dann verzichtet das Individuum möglicherweise auf ganze Aspekte des Lebens, nur weil das Unbewusste fürchtet wieder den schmerzhaften Erinnerungen eines solchen versteckten Teiles ausgeliefert zu werden.
Nicht vergessen: Der Teil kann, wenn er aktiv ist, und vielleicht einige Zeit – Stunden oder sogar Tage – aktiv bleibt, einiges an Schaden anrichten. Im jeweiligen Individuum selbst, aber auch im sozialen Umfeld des Menschen. Viele dort werden vielleicht keinerlei Verständnis haben, dass da gerade jemand “außer sich” agiert. Denn dieser mensch ist dann meist gerade in einem Ausnahmezustand, und damit entweder im Modus des Kämpfens oder Flüchtens. Was beides sozial gar nicht gut ankommt.
Und besonders unselig wird es, wenn dieses Verhalten dann im gegenüber ebenfalls einen Teil aktiviert. Und in einer Zwischenmenschlichen Beziehung plötzlich zwei Kämpfer aufeinander losgehen, oder einer beginnt aggressiv hinter einem Flüchtenden herzujagen. Da ist leider schon vieles zu Bruch gegangen, obwohl auf beiden Seiten Ursachen zugrunde liegen können, mit denen der jeweilige Opponent rein gar nichts zu tun hat.
Zum Glück gibt es Wege und Methoden erstaunlich effizient und schonend mit solchen Büchsen der Pandora umzugehen, und sie zu integrieren ohne jahrzehntelang langsam Erfahrung für die Teile aufzubauen.
Aber das ist eine andere Geschichte. Oder vielmehr eine Reihe anderer Geschichten, denen ich mich noch widmen werde.
Übrigens: Wer denkt dieser Artikel entbindet jetzt alle sich an die Regeln für zwischenmenschliches Zusammensein halten zu müssen, der hat sich geirrt. Wenn wir uns alle daran halten ist es ein Vielfaches leichter mit den gelegentlichen Aktivierungen der Teile gemeinsam gesund umzugehen.